Die stille Hoffnung, dass endlich jemand urteilt
Manchmal spüre ich es im Raum, ohne dass es ausgesprochen wird.
Eine feine Spannung, ein inneres Drängen.
Als wäre etwas mitgekommen in diese erste Sitzung – unausgesprochen, aber deutlich:
Der Wunsch nach einem Urteil.
Oft erzählen Paare von ihrer Not – sie reden schnell, fallen sich ins Wort, erklären, rechtfertigen, klagen an.
Sie sagen, sie hätten alles versucht.
Dass sie verletzt sind.
Dass der andere sich einfach nicht verändert.
Dass man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll.
Und irgendwo zwischen all diesen Sätzen liegt etwas Tieferes:
Eine unbewusste Hoffnung, fast kindlich und doch sehr ernst.
Dass endlich jemand sagt, wer hier recht hat.
Wer schuld ist.
Wer sich ändern muss.
Wer „es“ falsch gemacht hat.
Viele verneinen das, wenn ich es vorsichtig benenne.
„Nein, so ist das nicht.“
„Ich will ja nur, dass es besser wird.“
Und doch braucht es oft nur ein wenig Stille – einen Moment der Ehrlichkeit –, bis sie sich in diesem Wunsch wiedererkennen.
Vielleicht nicht laut, aber innerlich:
„Ich will einfach, dass endlich mal jemand auf meiner Seite steht.“
„Dass jemand sieht, wie sehr ich gelitten habe.“
Und dann: Frustration.
Denn auch hier – in der Therapie – gibt es keine Gerechtigkeit in dem Sinn.
Keinen Richter.
Keine Strafe.
Kein Urteil.
Manche spüren an dieser Stelle Enttäuschung.
Hilflosigkeit.
Widerstand.
Manche werden sogar genervt von mir.
Und das ist okay. Es gehört dazu.
Denn Paartherapie ist kein Ort, an dem geklärt wird, wer recht hat.
Sondern ein Raum, in dem jede:r lernen darf, bei sich anzukommen.
Sich selbst zu hören.
Und den anderen neu zu sehen.
Es ist keine einfache Einladung.
Aber eine kostbare.
Denn dort, wo kein Urteil gesprochen wird, entsteht manchmal etwas anderes:
Verstehen.
Verantwortung.
Und ein erster, leiser Kontakt.



